Stress verstehen (1/4)
Die körperliche Alarmreaktion mit Sinn und Risiko
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„There cannot be a stressful crisis next week. My schedule is already full.“
– Henry Kissinger, ehem. US-Außenminister
Über all seine vielfältigen Ausprägungsformen ist Stress in unserem Leben ein unliebsamer aber doch wohl bekannter Gast. Egal ob Zeitdruck, Überlastung mit zu vielen Aufgaben oder Terminen, ein wichtiges Projekt, das maximale Konzentration erfordert – bestimmt kennen Sie das Gefühl dieser körperlichen und mentalen Anspannung, den damit verbundenen beschleunigten Herzschlag und Atem, die Unruhe, Hast oder Verspannungen. Doch warum reagiert der Körper unter Belastung in dieser Form? Was genau ist eigentlich „Stress“? Und welche Effekte hat Stress kurz- und langfristig? Erst dieses Verständnis ermöglicht schließlich eine erfolgreiche Stressbewältigung.
Biologisch betrachtet ist Stress eine direkte, aber unspezifische Reaktion des zentralen Nerven- und Hormonsystems auf eine potenzielle Bedrohung, die unseren Vorfahren das Überleben gesichert hat. Sie versetzt den Köper in Alarmbereitschaft, versorgt ihn mit Energie und soll eine schnelle und effektive Bewältigung ermöglichen. Natürlich müssen wir heute nicht mehr unbedingt sofort um unser Leben fürchten. Stattdessen handelt es sich meist um andere subjektiv wahrgenommene (!) physische oder psychische „Bedrohungen“ wie Zeit- oder Leistungsdruck, Konflikte oder Bedrohungen des Selbstwerts. Dennoch laufen im Körper weiterhin die gleichen Prozesse ab wie schon zu Urzeiten. Die körperliche Stressreaktion folgt dabei nach dem Mediziner und Pionier der Stressforscher Hans Selye (1956) einem typischen Muster:
Die wahrgenommene Bedrohung führt zunächst zu einem „Schock“, der die Widerstandsfähigkeit schwächt. Der Körper reagiert darauf mit einer unspezifischen Überstimulation, um flexibel Energiereserven bereitzustellen und Widerstandskräfte aufzubauen. In der potenziellen Bedrohungssituation arbeitet der Organismus in Höchstform: Die Durchblutung von Gehirn, Herz und Muskeln wird erhöht, die Herzaktivität gesteigert, die Arbeit des Magen-Darm-Trakts zum Energiesparen eingeschränkt. Diese charakteristischen körperlichen Reaktionen werden von einer Reihe von Symptomen auf mental-emotionaler (z.B. Unruhe, Grübeln, Tunnelblick) und Verhaltensebene (z.B. Anspannung, Ungeduld) begleitet.
Durch eine Reihe weiterer endokriner und metabolischer Prozesse wird kurz- bis mittelfristig die maximale Stressabwehr aufgebaut. So ist die Person bestmöglich für die Konfrontation mit dem Stressor gerüstet. Allerdings ist die eigentlich adaptive Stressreaktion auf eine entsprechend schnelle Beseitigung der Bedrohung ausgelegt, da das herbeigeführte hohe körperliche Leistungsniveau in der Aufrechterhaltung sehr viel Energie kostet. Im Normalfall soll nach der Bewältigung der Bedrohung das Widerstandsniveau wieder auf ein normales Level heruntergefahren werden. Länger anhaltender Stress stellt daher ein enormes Risiko dar, weil er die körperlichen Energieressourcen zunehmend erschöpft. Dies führt häufig bereits recht schnell zu ersten psychosomatischen Krankheitssymptomen wie Bluthochdruck, Migräne oder Magenkrämpfen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass diese Symptome selbst zu Auslösern von neuem Stress werden und so in einem Teufelskreis münden.
Wenn der ursprüngliche Stressor über eine längere Zeit nicht bewältigt werden kann oder Aktivierungslevel und Energiebedarf durch neue Stressoren beständig hochgehalten werden, kommt es schließlich zur völligen körperlichen Erschöpfung. Jeglicher Nutzen der ursprünglichen Stressreaktion ist längst verpufft, die Kapazität der Anpassungskräfte aufgebraucht. Der Organismus ist komplett überlastet, sodass es zu funktionellen Entgleisungen wie Magenproblemen oder chronischem Bluthochdruck, dauerhaftem Energiemangel und langfristigen Schäden an Immunsystem und Organen kommen kann. Daraus resultieren häufig schwere Folgeerscheinungen wie eine erhöhte Infektionsanfälligkeit, Depressionen, Angstzustände und ein grundsätzlich höheres Risiko für körperliche sowie psychische Erkrankungen. Nicht umsonst gehen Forscher davon aus, dass etwa 80% aller Erkrankungen letztlich auf Stress zurückzuführen sind.
Stress ist nicht per se schlecht! Ganz im Gegenteil: Es gibt sogar zahlreiche Situationen, in denen er helfen, ja sogar beflügeln kann. In der Psychologie wird daher zwischen sog. „Eustress“ und „Distress“ unterschieden. Der positive Eustress tritt vor allem in Situationen auf, die zwar als herausfordernd und schwierig aber dennoch lösbar empfunden werden. Diese Wahrnehmung ist höchst subjektiv und z.B. abhängig von den zur Verfügung stehenden Ressourcen für den Umgang mit dem Stressor. Eustress ist man i.d.R. nur einen kurzen Zeitraum ausgesetzt und er wird nicht als belastend erlebt. Nach der Bewältigung der Stress-Situation werden keine weiteren Stresshormone produziert, die Anspannung fällt ab. Es kommt also nicht zu den beschriebenen körperlichen Langzeitfolgen, sondern bei erfolgreicher Bewältigung sogar zu gesteigertem Selbstvertrauen. In Maßen ist Eustress also sogar gesund, weil man lernt, Belastungen zu bewältigen.
Schädlich ist dagegen vor allem Distress, bei dem sich der Körper über längere Zeit in einem angespannten Zustand befindet, der mit seinen höchst individuellen Symptomen als sehr belastend wahrgenommen wird. Typische Warnzeichen sind z.B. Gefühle der Überforderung, Ängste, Konzentrationsprobleme. Wenn dieser Stresszustand chronisch wird, kann es im schlimmsten Fall zu den Langzeitfolgen der Erschöpfungsphase kommen.
Die gute Nachricht ist: Ein effektives Stressmanagement kann diese Entwicklung verhindern! So können z.B. körperliche und mentale Symptome als frühzeitige Warnzeichen genutzt werden. Der Aufbau von verschiedenen Ressourcen zur Stressbewältigung wie analytische oder Zeitmanagement-Techniken helfen beim Erkennen sowie der schnelleren Bewältigung oder Verminderung von Stressauslösern. Entspannungstechniken stärken eigene Energieressourcen und über die Arbeit an Denkmustern und Bewertungsprozessen kann die subjektive Stresswahrnehmung positiv beeinflusst werden.